A TEI Project

Ebendaselbst. [Göttingen] (1826-07-31) —

Table of contents

Göttingische
gelehrte Anzeigen
unter der Aufsicht
der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften.

[Seite 1201]

121. Stück.

Den 31. Julius 1826.


Göttingen.

Die Vorlesung des Herrn Ober-Medicinalraths
Blumenbach in der Versammlung der Königl.
Societät der Wissenschaften am 8ten dieses Mo-
naths betraf eine

novam decadem collectionis suae cranio-
rum diversarum gentium, tanquam com-
plementum priorum.

Erst fünf Schedel von allgemeinerm Bezug auf
die physische Völkerkunde, zur Vervollständigung
dessen, was in den vorhergehenden Decaden darüber
gesagt war; und dann die übrigen zu den fünf
Rassen insbesondere.

I. In frühern Commentationen waren mitunter
auch Schedel von Völkern des Alterthums
beschrieben worden; von ägyptischen Mumien, von
alten Hellenen, Römern und Tschuden. Aber
noch von keinem alten Germanen oder ver-
wandten Volke. Freylich aus begreiflichen Grun-
de; weil die Urnen derselben nur unvollständige
Fragmente enthalten, und die Gebeine, zumal aber
[Seite 1202] die Schedel in den altgermanischen Grabhügeln,
meist gar mürbe und brüchig sind. Inzwischen
hat der Verf. auch die zahlreichen Bruchstücke, Zäh-
ne etc. die ihm aus jenen alten Grabstätten aus
den verschiedensten Gegenden Deutschlands zuge-
kommen, immer aufbewahrt, bis er vollständigere
Hirnschalen erhalten, deren er ein Paar besonders
merkwürdige zweyen Mitgliedern der Königl. Socie-
tät verdankt. Herrn Geh. R. von Goethe einen
vorzüglich ganz gebliebenen aus den Grabhügeln
bey Groß-Romstedt, die schon aus dessen 2ten B.
über Kunst und Alterthum bekannt sind; und
zur Vergleichung einen aus einem Cimbrischen Gra-
be von Herrn Bischof Münter. Unter diesen
mancherley mehr oder minder gut erhaltenen Ge-
beinen und Fragmenten von Erwachsenen zeigt sich
wohl nach anthropometrischer Prüfung manche Ver-
schiedenheit der Statur, aber auch nicht ein einzi-
ges Stück das auf eine auffallend ungewöhnliche
Menschengröße – auf carpora ingentia, imma-
nia, altissima
– schließen ließ; sondern gerade
auf solche qualia nunc hominum producit cor-
pora tellus.
Nicht als ob es unter den alten Ger-
manen nicht eben so gut Individuen von auffal-
lend großer Statur gegeben, als heute noch unter
den verschiedenartigsten Völkerschaften: aber das
sind Anomalien zur Bestätigung des alten Satzes:
Exceptio confirmat regulam.

II. Eine merkwürdige Thatsache für die philoso-
phische Geschichte des Menschengeschlechts ist das
Aussterben ganzer Völkerschaften, wo-
von der Verf. früher Beyspiele an den Guanchen
auf den glückseligen Inseln, und den rothen
Caraiben auf St. Vincent (genau von den schwar-
zen mit Negerblut zu unterscheiden) geliefert hat.

Auch die echten ursprünglichen Kamtschada-
len oder Itelmännen (wieder nicht mit den Ko-
[Seite 1203] räken oder Tschuktschen auf der gleichen großen Halb-
insel zu verwechseln) gehören nun wohl dahin, de-
ren Aussterben schon Steller ahndete, und von wel-
chen Hr. Admiral Krusenstern, Mitglied unserer
Societät, vor 20 Jahren sagte: ‘“Jetzt find nur
noch wenige Kamtschadalen übrig geblieben, und
auch diese wenige werden vielleicht in einigen
Jahren ganz verschwunden seyn.”’

Wornach der Verf. seit 40 Jahren vergebens
getrachtet, was ihm selbst die Bemühungen seines
vieljährigen Freundes, des unsern Instituten so un-
vergeßlichen Baron von Asch nicht anzuschaffen
vermochten, dem er doch so viele Nationalschedel
Sibirischer Völkerschaften verdankt, das ist ihm
nun bey Gelegenheit der vorigjährigen Reise der
Weimarischen Hohen Herrschaften nach
St. Petersburg zu Theil worden. Der Kopf eines
echten Kamtschadalen, mit so ganz auffallend emi-
nirenden Backenknochen, wodurch sich nach Krasche-
ninnikow dieses Volk von andern Sibirischen Stäm-
men auszeichnete, und daher den Porträtmäßigen
Abbildungen davon Zug für Zug entsprechend.

III. Von Völkern die ihre charakteristische Sche-
delform meist unverkennbar erhalten; ent-
weder wenn sie, ob schon weit verbreitet, sich doch
nur unter einander verheirathen wie die Juden,
echten Zigeuner etc. wovon schon die frühern Decaden
Musterköpfe beschreiben; oder vollends wenn sie da-
bey bloß in eine enge Heimath beschränkt sind, wie
z.B. die alten Bataver auf den Inseln der
Zuyder-Zee, Marken, Shokland etc. von wannen
der Verf., durch die dort näher bekannten Aerzte,
die Hrn. Doctoren Crull, Kuyper und van
Swinderen mehrere Köpfe, sämmtlich wie aus
Einer Form gegossen, erhalten hat.

IV. So wie hingegen in frühern Vorlesungen
[Seite 1204] mancherley Blendlinge von gemischten Stäm-
men geschildert waren, wie z.B. von Tatarischen
mit Mongolischen, von Mulatten u.a., so nun
jetzt einer aus der Vermischung der Mongoli-
schen Rasse mit der Malayischen; der
Schedel einer Frau aus Java die einen Schinesen
zum Vater und eine Malayische Mutter gehabt
hatte. Geschenk des Hrn. Prof. Reinwardt
zu Leyden, der die Naturgeschichte des Holländi-
schen Ostindien durch seinen sechsjährigen Auf-
enthalt daselbst, so sehr bereichert, und dem Sche-
del, von welchem hier die Rede ist, auch die von
den Rassen der beiderley Eltern beygefügt hat.

V. Von der seit Hippokrates bekannten Natio-
nalsitte gewisser Völkerschaften die Köpfe ihrer
neugebohrenen und ganz jungen Kinder durch an-
haltenden Druck nach einer beliebten Form zu mo-
deln, waren in den vorigen Decaden Muster von
Caraiben, Choktaws, (Flatheads) u.a. gegeben.
Von denen der alten Peruaner aus den Zeiten der
Incas hatte der Verf. früher zwey Gypsabgüsse
durch Sir Jos. Banks erhalten; nun aber von
Herrn Caldcleugh, dem Verf. der interessanten
Travels in S. America einen wirklichen Schedel
aus einem der alten Begrädnißplätze (Guacas) bey
Quilca, ganz auffallend in der abenteuerlichen
Form jener Gypse. Die Proceduren bey allen
diesen absichtlichen Kopfpressen sind so bekannt,
daß es befremden muß, wenn ein verdienter Schot-
tischer Arzt noch erst vor zwey Jahren drucken ließ:
‘“the human crania are fashioned all over
the world by the hands, of Nature, and not
by man.
”’

Und zum Schluß, wie schon gedacht, fünf merk-
würdige Schedel, die in den vorigen Decaden noch
fehlten, nach der Ordnung der Rassen.

[Seite 1205]

VI. Zur Caucasischen: ein echter Highlander
von der Hebridischen Insel Eigg (oder Egg), aus
der dasigen famosen Mordhöhle, wo einst ein Paar
hundert Mac Donalds die sich vor den Rachsüchti-
gen Mac Leods da hineingeflüchtet, durch Feuer
und Rauch erstickt worden. Der Verf. verdankt
dieses merkwürdige Stück dem berühmten Geolo-
gen Herrn Greenough der jene dritthalbhundert
Fuß lange Höhle durchkrochen.

VII. Zur Mongolischen: ein Konäger von
der Insel Kadjak (oder Kichtak) an der N.W.
Küste von Amerika vor Cook's Inlet. Geschenk
des Hrn. Hofr. Espenberg, ersten Arztes auf der
Krusensternschen Weltreise und Verf. der musterhaf-
ten Abhandlung über den Gesundheitszustand der
Mannschaft auf derselben.

VIII. Zur Aethiopischen: ein Caffer, von
Hrn.Superint. Hesse zu Hoya, dessen 16jährigem
Aufenthalt in der Capstadt der Verf. vielfache wis-
senschaftliche Belehrung und reiche Beyträge zu sei-
nen Sammlungen verdankt.

IX. Zur Amerikanischen: ein Mexicaner von
reinem Blute ‘“sans aucun melange espagnol
ou africain
”’ wie der edle Geber, der berühmte
Minister Staats-Secretair Lucas Alaman
dem Verf. dabey schrieb. Der Kopf selbst die volle-
ste Bestätigung von dem was Hr. Alex. von Hum-
boldt sagt: ‘“wirklich zeigt uns auch die Osteolo-
gie wie sehr der Schedel des Americaners von
dem der Mongolischen Rasse verschieden ist.”’

X. Zur Malayischen: ein ganz ausgezeichnet
schön erhaltener und genau symmetrisch mit Feder-
Einschnitten tatowirter Kopf vom fernsten Volke
auf Erden fast unsern Antipoden, den canniba-
[Seite 1206] tischen Neu-Seeländern, mit welchem der Hr.
Herzog von Northumberland diese anthro-
pologische Sammlung bereichert hat.



Blumenbach, Johann Friedrich. Date:
This page is copyrighted