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Göttingische
gelehrte Anzeigen.
Unter der Aufsicht
der königl. Gesellschaft der Wissenschaften.

Der zweyte Band
auf das Jahr 1823.

Göttingen,
gedruckt bey J.C. Baier.

Göttingen.

[Seite 1241]

In der Sitzung der Königl. Societät der Wissen-
schaften am 19ten vorigen Monats hielt Herr Ober-
Medicinalrath Blumenbach eine Vorlesung:

de veterum artificum anatomicae peritiae
laude limitanda, celebranda vero eorum
in charactere gentilio experimenda ac-
curatione
.

Schon in dem im XVten B. der Commentatio-
nes
befindlichen Specimen historiae naturalis anti-
quae artis opribus illustratae eaque vicissimi il-
lustrantis
,
hatte er von den auf Kunstwerken des Alter-
thums vorkommenden Raßen und Nationalvarietäten
des Menschengeschlechts gehandelt; seitdem aber eine
ganz bedeutende Nachlese dazu gehalten, die er jetzt
mittheilte, zugleich aber eine Würdigung der neuer-
lich so verschiedentlich besprochenen anatomischen
Kenntnisse der alten Künstler damit in Verbindung
brachte.

[Seite 1242]

Man hat ihnen diese Kenntnisse besonders aus ei-
nem dreyfachen Grunde zuschreiben wollen. a) schon
a priori; da anatomisches Studium als Grundfeste
richtiger Zeichnung in der bildenden Kunst anzusehen
sey, so müßte dasselbe auch den alten Künstlern
unentbehrlich gewesen seyn. b) weil viele ihrer
Wunderarbeiten, namentlich der griechischen Bild-
hauerkunst, offenbar von jenem Studium zeugen;
und weil c) manche antike Kunstwerke eigentlich so-
genannte anatomische Gegenstände vorstellen.

Von den Erinnerungen die hier dagegen beygebracht
wurden, können wir nur weniges ausheben. –
So a) die großen altdeutschen und altniederländi-
schen Meister in Darstellung nackter Figuren, die
nie anatomischen Unterricht genossen hatten, wie zu
einem Beyspiele statt aller ‘“der Polyklet unsers Va-
terlandes”’ Albr. Dürer, Verfasser der vier Bü-
cher von menschlicher Proportion, dessen Leben aus
seinen eignen und den Schriften seiner Zeitgenossen
bekannt genug ist, um zu zeigen, daß Er so wenig als
Lucas von Leyden und so manche andere treffli-
che Bildner des Nackten, Unterricht oder Selbstübung
im Zergliedern gehabt haben. b) Die Ueberzeugung
des Verf. der Vorlesung, der die mehresten der
allberühmtesten Meisterwerke der griechischen Bild-
hauerkunst in den Originalen und mit anatomischer
Rücksicht zu prüfen Gelegenheit gehabt, daß der wun-
dersame Tact ihrer Verfertiger in der großen
Kunst zu sehen (wozu er in einer andern Ab-
handlung merkwürdige Belege gegeben) bey den Stu-
dien, die ihnen die gymnastischen Uebungen u. dergl.
gewährten, alle Zergliederung des menschlichen Kör-
pers entbehrlich machte. Und das bewährt sich auch
durch die schon von andern gemachte Bemerkung, daß
sich doch mitunter an jenen Meisterwerken einzelne
Unrichtigkeiten zeigen, die ihre Verfertiger bey wirk-
licher anatomischer Kenntniß vermieden haben wür-
den. Doch können manche Uebertreibungen auch ei-
nen absichtlichen Grund haben, wie zur Auszeichnung
der männlichen Form die wohl durchgehends, selbst
[Seite 1243] an jugendlichen Statuen, über die Natur tief ge-
furchte Hüftlinie.

Was aber c) eigentlich anatomische Vorstellungen
auf Kunstwerken des Alterthums betrifft, so erin-
nert der Verf. dabey besonders folgendes: Erstens,
daß gerade die mehresten derselben so fehlerhaft aus-
geführt sind, daß sie eher zum Beweis der Unkunde
ihrer Verfertiger dienen können. So die meisten
Schedel und Skelette; wie z.B. das lächerlich mon-
ströse kupferne Knochenmännchen im Kircherschen Mu-
seum in Rom, das doch oft, selbst von gelehrten
Aerzten als anatomische Darstellung, ohne Rüge ih-
rer ganz abenteuerlichen Unform, angeführt ist. Hier
kamen auch die drey tanzenden gerippähnlichen Figu-
ren auf einem der Stucco Basreliefe in dem vor 14
Jahren bey Cumä entdeckten griechischen Grabmal
zur Sprache, wovon dem Verf. zweyerley Abbildun-
gen bekannt sind. Die eine in des gelehrten Cano-
nicus und Aufsehers des Königl. Antiken Cabinets
zu Neapel de Jorio Scheletri Cumani diluci-
dati;
die andre in des verdienten Correspondenten
der Königl. Societät, Herrn Consistorialrath Sick-
lers
Commentatio de monumentis aliquot
graecis
. Dort wie es der Gegenstand fodert, tan-
zende Lemuren, folglich Haut und Knochen, fast wie
Guanchen-Mumien. Hier aber ganz gegen den aus-
drücklichen Sinn des Textes, mithin wohl bloß durch
Künsteley des Kupferstechers, die Unterschenkel und
Vorderarme wie nach einem anatomischen Zeichenbuche
rein skeletirt, selbst mit Rotation der Speiche, aller
Knöchelchen des carpus und tarsus u. dergl.
Folglich wohl für die gegenwärtige Untersuchung von
keiner Beweiskraft.

Daß aber die alten Künstler mitunter allerdings
auch einzelne anatomische Gegenstände mit größter
Treue ganz nach der Natur dargestellt haben, dafür
zeigte der Verf. einen merkwürdigen Beleg aus seiner
Sammlung vor, den er seinem alten Freunde dem
verdienstvollen Hrn. Hofrath Sulzer in Ronneburg
verdankt, der das seltne Stück vor 18 Jahren in
[Seite 1244] Rom erhalten Ein Rehbocksschedel in natürlicher
Größe aus salinischem, nach Korn und Durchschein-
heit unbezweifelt griechischen Marmor, und nach den
sichersten Kriterien, wie der Anflug von Eisenoxyd-
Hydrat und der fleckenweise Ueberzug von Kalktuff,
eben so unbezweifelt antik. Und die Ausführung
durchaus Naturgetreu, selbst in den Suturen etc.
ohne Vergleich genauer als an den Schedeln von
andern bisulcis in den Friesen der Dorischen Ord-
nung oder an manchen Grabsteinen, Vasen etc. –
Ueber die Bestimmung des Stückes selbst, erlaubt
sich der Verf. kaum eine Vermuthung. Sollte es
etwa an einen Altar der Diana gehört haben, da
der Stuhl auf den Stirnbeinen angebohrt ist um
die Gehörne daraufzustecken, so wie man nach Plu-
tarch
auch Hirschgeweihe an die Tempel dieser Göt-
tin zu nageln pflegte.

Zu denjenigen Antiken hingegen, an welchen man
wohl ganz irrig die anatomische Darstellung von
menschlichen Eingeweiden etc. zu finden geglaubt hat,
rechnet der Vf. namentlich die vermeinten Gebärmüt-
ter, wie z.B. auf dem geschnittnen Stein den Ru-
bens
in seinem Briefe an Peiresk beschreibt,
oder in terra cotta in Angelo Quirini’s gro-
ßen Sammlung ton Spintrien, oder die Statue
in der Villa Borghese, die Bracci für eine Venus
pudica
hält, welche aus jungfräulichem Eifer einen
uterus gravidus mit dem Fuße tritt bis er platzt
und die Leibesfrucht zu Tage kommt u. dergl m.

In einem andern Theile der Vorlesung welcher
von den Nationalphysiognomieen der beyden den alten
bekannten Raßen des Menschengeschlechts, der Cau-
casischen und Aethiopischen auf Kunstwerken des
Alterthums handelte, zuförderst von der vielartigen
Verschiedenheit der noch so charakteristischen Neger-
köpfe, zumahl aus den Aegyptischen Denkmahlen,
versteht sich mit Einschluß ihrer Mumien. So wie
et Verf. in einer frühern Sitzung einen Mumien-
kopf und den eines Hindu vorgelegt hatte, beyde
wie aus Einer Form gegossen (gel. Anz. 1816. S.
[Seite 1245] 2082.), so in der jetzigen den von einer andern Mu-
mie (und zwar nach den stumpfen dicken Vorderzäh-
nen zu schließen, aus der frühesten Zeit), und den
demselben auffallend ähnelnden eines Negers; nur
wohlverstanden nicht etwa eines von Dahomey etc.
mit der ‘“true Guinea face”’, sondern von einem
der Uebergangs Neger wie die Tibbus, die Nu-
bier u. dergl. – Und wieder zur Vergleichung ward
ein gar sprechendes altägyptisches Negerköpfchen von
gebranntem Thon mit spangrüner Glasur, aus den
Mumien Catacomben bey Sakara vorgelegt womit,
Hr. Hofr. Böttiger, dessen Freundschaft der Verf.
seit 30 Jahren so vielseitig lehrreiche Mittheilung,
für seine Studien verdankt; seine anthropologische
Sammlung bereichert hat.

Und so auch noch ein Wort über die Pallasköpfe
auf den ältesten athenischen Tetradrachmen, die neuer-
lich auf ägyptische Gesichtsbildung gedeutet worden,
wogegen sich aber gar manche Bedenklichkeiten zeigen;
besonders die auffallende Unähnlichkeit dieser Profil-
köpfe auf jenen ältesten Dickpfennigen unter einan-
der, die gewiß nicht nach einerley Prototyp geformt
seyn können; daher denn auch manche Archäologen
die Hindustanische und andere hingegen die so mächtig
davon verschiedene Lybisch-Aethiopische-Bildung darin zu
erkennen geglaubt haben, so wie anderseits dieselbe
rohe Bildung im Schnitt der Augen und des Mun-
des, beides an weiblichen und an männlichen Köpfen,
auf andern ältesten griechischen Münzen, so wie in
mancherley andern Anfängen der bildenden Kunst
vorkommt.

Was sonst noch über National-Physiognomieen etc.
z.B. der Perser, Juden auf den Denkmahlen des
Alterthums gesagt ward, leidet hier keinen Auszug.

Nur das noch, daß der Verf. noch bis dato, so
wie er’s schon vor 20 Jahren erklärt hat, nicht ein
einziges antikes Kunstwerk mit der so unverkennba-
ren Gesichtsbildung der Mongolischen Raße des
Menschengeschlechts aufgefunden hat.



Blumenbach, Johann Friedrich. Date:
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