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Göttingische
gelehrte Anzeigen
unter der Aufsicht
der königl. Gesellschaft der Wissenschaften.

Der erste Band
auf das Jahr 1810.

Göttingen,
gedruckt bey Heinrich Dieterich.

Göttingen.

[Seite 769]

Hr. Doctor Osiander, Sohn unsers Hrn. Pro-
fessors, hat der königl. Societät der Wissenschaften
die merkwürdige Krankengeschichte eines Harn- und
Bluterbrechens bey unterdrückter natürlichen Urin-
und Menstruations-Ausleerung mitgetheilt, die er
während seines jetzigen Aufenthalts zu Paris im
Hôpital de la Charité zu beobachten die seltene
Gelegenheit gehabt.

Eine jetzt 40jährige unverheirathete Frauens-
person, die in der Jugend gesund und wohl gewesen
war, bekömmt im 23. Jahre einen flechtenartigen
Ausschlag, den sie durch örtliche Mittel vertreibt,
aber dagegen von der Zeit an mancherley Magen-
beschwerden leidet. Vor drey Jahren erscheint
der Ausschlag wieder, verliert sich aber nochmahls
nach ähnlicher Behandlung, worauf aber nicht nur
die Magenübel zunehmen, sondern auch die Men-
struation gestört wird. Jetzt erleidet sie einen hef-
tigen Fall auf den Rücken, eben um die Zeit, da
[Seite 770] ihre monathliche Reinigung eintreten sollte. Fünf
Wochen nachher stellt sich ein Blutbrechen ein, das
ein halbes Jahr hindurch täglich anhält, und nach
Verlauf dieser Zeit in das Erbrechen einer unge-
heuern Menge wässeriger Flüssigkeit übergeht. Bald
darauf wird die normale Harn-Secretion unter-
drückt, und es zeigen sich nun vor dem Erbrechen
convulsive Zufälle, Schmerzen in der Blase, in der
Gegend der Ureteren, der Nieren und des Magens
mit aufgetriebenem Unterleibe. Daß das, was
während dieser mehrere Monathe lang anhaltenden
Zufälle ausgebrochen worden, wahrer Harn gewe-
sen, ergibt die unter Hrn. Vauquelin’s Leitung von
einem jungen Chemiker unternommene Analyse, als
welche, der übrigen Resultate zu geschweigen, den
wahren Harnstoff lieferte. Man fängt jetzt an, die
Harnblase mittelst der Sonde auszuleeren, wodurch
das Erbrechen gemindert und selbst für so lange
gehoben wird, als kein Urin sich in derselben an-
sammeln kann. Das Blutbrechen aber kehrt regel-
mäßig alle vier Wochen zurück, und hält dann jedes-
mahl zwey bis drey Tage an. Den Anlaß und
Verlauf der Krankheit, und besonders der merkwür-
digen Zufälle, denen die Kranke nun seit acht Mo-
nathen unterworfen ist, sucht der Hr. Doctor am
Schluß nach physiologischen und pathologischen Prin-
cipien in ursachlichen Zusammenhang zu bringen,
und durch analoge und partielle Parallel-Fälle zu
erläutern; denn einzelne Beyspiele, entweder von
Blutbrechen bey Alienation der monathlichen Rei-
nigung, oder aber von Erbrechen des Harns bey
Ischurie, finden sich von genauen Observatoren be-
obachtet (unter welchen wir bloß von dem seltneren
vomitus urinosus nur drey der neuesten nennen,
[Seite 771] Senter im ersten Bande der Transactions of the
College of physicians of Philadelphia
, Zeviani
im sechsten Bande der Memorie di matematica
etc. della Società Italiana,
und unsern sel. Lentin
im zweyten Bande seiner Beyträge: doch sind alle
diese drey Fälle von dem auffallend merkwürdigen
und complicirten, den Hr. Doctor O. hier mittheilt,
noch sehr verschieden).



Blumenbach, Johann Friedrich. Date:
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