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Göttingische
Anzeigen
von
gelehrten Sachen
unter der Aufsicht
der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften.

Der erste Band,
auf das Jahr 1786.

Göttingen,
gedruckt bey Johann Christian Dieterich.

Göttingen.

[Seite 49]

Die Vorlesung des Hrn. Prof. Blumenbach
in der Versammlung der Societät der Wiss.
am 24. Dec. v.J. enthielt dessen neuere
Bemerkungen über den Bildungstrieb und das
Zeugungsgeschäfte.
Der Raum verstattet uns
nur ein paar derselben zu berühren. Erst ein Wort
von der Allgemeinheit des Bildungstriebes, als
wovon man auch in der unbelebten Natur immer
mehr Spuren entdeckt: und dahin das Gebiethe
der eingeschachtelten Keime auszudehnen, hat man
sich doch nicht dürfen einfallen lassen. Selbst die
Wolken haben ihre bestimmte Gestalten und der ele-
ctrische Strohm bildet die seinigen u.s.w. Im
Mineralreich giebt es crystallinische Vegetationen,
[Seite 50] die, – so unermeßlich auch die Kluft zwischen je-
nem Reiche und den organisirten bleibt, – doch in
der äussern Form eine auffallende Aenlichkeit mit
gewissen organischen Körpern haben. Wie z.B.
manche Arten des Peruanischen metal machacado
mit einigen Mooßen, zumal unter den Hypnis.
Auch selbst gewissermaßen das Stückmessing und die
sogenannte Mengepresse. – Von da wendet sich
der Verf. zu den organisirten Geschöpfen.

Da man sich bey den Reproductions Versuchen
doch in allem Ernst die Ausflucht erlaubt hat, als
ob die Natur auf solche Verstümmelungsfälle ge-
rechnet, und deshalb partielle Keime in duplo und
triplo auf die Reserve gelegt hätte, so entkräftet er
diesen Vorwand durch die Beyspiele von der Ent-
stehung ganz widernatürlicher, sonst im natür-
lichen Bau gar nicht existirender,
organischer
Theile, die blos durch eine zufällige Krankheit
veranlaßt worden; auf welche die Natur doch wohl
schwerlich zum voraus gerechnet haben konnte. Be-
sonders neuerzeugter Häute und Blutgefäße nach
innern Entzündungen oder Wunden, bersten der
Eingeweide etc.

Der einzige hier noch denkbare Nothbehelf, als
ob solche, ganz ausser dem Laufe der Natur erzeugte,
Häute oder Blutgefäße am Ende vielleicht bloße
Verlängerungen der benachbarten natürlichen
Theile seyn könnten, wird sogleich durch die Bey-
spiele von besondern Knochen widerlegt, die nicht
etwa als Exostosen aus andern Knochen gewuchert
sind, sondern ganz für sich zu bestimmten Absichten
und doch in einer zufällig entstanden Krankheit
gebildet worden, um dem Fortgange derselben und
ihren Folgen möglichst vorzubeugen. Von der Art
sind die bekannten Zwickelbeinchen (die sogenann-
[Seite 51] ten ossic. Wormiana) die am häufigsten beym innern
Wasserkopf – der doch aber selbst so oft die Folge
einer ganz zufälligen Veranlassung seyn kann –,
mitten auf den ungeheuren Fontanellen entstehen,
und womit die natura medicatrix diese gefährlichen
Lücken zu füllen trachtet, und ihnen daher die Kno-
chenfasern der benachbarten Ränder der flachen Kno-
chen des Scheitels und des Hinterhaupts wie Strah-
len gleichsam entgegenschickt, um in sie einzugrei-
fen. – Jene Beinchen gehören nicht zum natür-
lichen Bau, (auch finden sie sich nur äusserst selten
bey Thieren oder an den Schedeln von wilden Völ-
kern), können folglich wohl schwerlich präformirt
gewesen seyn. Und doch sind es wahre einzelne ab-
gesonderte Knochen, mit ächten Näthen eingefaßt.
(Und wie kunstreich ist nicht der Bau einer ächten
Nath mit ihren doppelten und dreyfachen Reihen
von Zäpfgen und Grübgen, die so bewundernswür-
dig ineinander greifen). Und zwar werden sie nicht
etwa blos von den benachbarten natürlichen Näthen
der flachen Knochen umschlossen, sondern oft liegen
ihrer mehrere dicht neben- und untereinander, so
daß sie folglich unleugbar auch ihre ganz eignen neu-
erzeugten Näthe bilden. – Die Schlußfolgen er-
geben sich von selbst. Können einmal vollkommne
besondre Knochen da gebildet werden, wo an kei-
nen dazu präformirten Keim zu denken ist, wozu
brauchts denn überhaupt der ganzen Einschachte-
lungshypothese.

Ein andrer Grund: die thierischen Misgeburten.
Manche derselben, z.B. die mit doppelten Leibern
und einem gemeinschaftlichen Kopf sind von der Art,
daß sie nach der ausdrücklichen Behauptung des
Hrn. v. Haller und andrer Verfechter der Keime
nicht etwa durch das Zusammenwachsen zweyer Keime
[Seite 52] und andre dergleichen Zufälle entstanden seyn, son-
dern in der ursprünglich-monstreusen ersten Anlage
eines einzelnen Keims ihren Grund haben sollen:
d.h. sie waren schon von je als Misgeburt präfor-
mirt. Nun aber – sind diese Misgeburten unter
gewissen Hausthieren so gemein und doch unter den
wilden Thieren derselben Art fast unerhört. Soll
das also der Schöpfer so prädestinirt haben, daß
von den ineinander eingeschachtelten Keimen einer
Gattung von Thieren, z.B. von Schweinen, die
monstreusen gerade dann erst an die Reihe der Ent-
wickelung kämen, wenn der Mensch sich erst diese
Thiere unterjocht haben würde; und daß diese Keime
zu Misgeburten dann auch just blos den unterjoch-
ten und nicht den zu gleicher Zeit wild lebenden
Individuis zur Entwickelung anheimfallen müßten.
– Hingegen hat es hoffentlich nichts widersinniges,
anzunehmen, daß nach der Unterjochung der Haus-
thiere, wodurch ihr ganzes Naturen gleichsam um-
geschaffen worden, ihre ganze körperliche Oekono-
mie so viel Veränderung erlitten; daß dann auch
ihr Bildungstrieb etwas von seiner sonstigen Be-
stimmtheit verlohren hat, und daß folglich diese
Thiere, so wie sie dadurch in unzählige Spielarten
degeneriren, so auch den Monstrositäten häufiger
unterworfen seyn können.

Dieß alles erhält noch mehr Gewicht durch den
erblich werdenden Schlag anfänglicher Künste-
leyen
oder zufälliger Verstümmelungen am Körper;
die sich wieder mit den Keimen nicht reimen lassen.
Die bekannten und täglich sich mehrenden Beyspiele
von Thieren, z.B. von Hunden, denen der Schwanz
und die Ohren abgeschnitten worden, und die dann
eben so von Mutterleibe an verstümmelte Junge
werfen. – Hr. B. führt aus seiner eignen Be-
[Seite 53] kanntschaft Personen an, welche die Spuren ihrer
in der Jugend empfangnen Wunden auf ihre nach-
her erzeugten Kinder aufs unverkennbarste fortge-
pflanzt haben. – Vielleicht daß in ehmaligen ab-
sichtlichen Verstümmelungen und Künsteleyen an
Bildung des Körpers ein Grund mancher jetzt an-
gebohrnen körperlichen Verschiedenheiten im Men-
schengeschlecht liegt. So ist es zwar ausgemacht,
daß heutiges Tages die Negerkinder schon mit der
platten Nase gebohren werden. Hr. B. hat selbst
solche von Natur stumpfnasige Embryonen von Ne-
gern und Hottentotten in seiner eignen Sammlung
und im academischen Museum untersucht: Aber er
führt die gültigsten Reisebeschreiber noch aus dem
vorigen und aus dem 16ten Jahrhundert an, die
Augenzeugen waren, wie man den neugebohrnen
Wilden die Nase platt quetschte.

Insbesondere von der gewaltsam erkünstelten
eignen Form der Schedel bey so vielen Völkern.
(– Es hat Leute gegeben, und darunter sogar ei-
nen Anatomen und Mitglied der Pariser Akademie
der Wiss. Hr. Sabatier, die überhaupt bezweifelt
haben, daß dieses gewaltsame Pressen der Kinder-
köpfe einen dauerhaften bleibenden Eindruck auf ihre
nachherige Form machen könne. Hoffentlich hat
Hr. S. die ganze, bey manchen wilden Nationen
fast Jahre lang dauernde, und von den besten Rei-
sebeschreibern so genau angemerkte Procedur nur
nicht gekannt, da z.B. manche des Kindes Wie-
genbret nie anders, als mit dem Kopfe um einen Fuß
tiefer als das untre Ende hängen, damit die ganze
Last den anfangs so weichen nachgiebigen Scheitel,
der hinten noch dazu in eine besonders dazu ge-
machte Vertiefung zu liegen kommt, unaufhör-
lich wider einen platten Sack voll Sand pressen
[Seite 54] muß, der am obern Ende der Wiege aufgestellt ist,
u.s.w. –)

Die berühmte Stelle in Hippocratis Werke von
Luft, Wasser und Clima, von den macrocephalis
am schwarzen Meere, die weiland aus Bizarrerie
ihren neugebohrnen Kindern die Köpfe langgepreßt
hatten, und wie diese durch lange Generationen
wiederholte Sitte endlich zum erblichen Schlag –
jene Form den Kindern angebohren worden. Hr. B.
vergleicht damit die Nachrichten neuerer Reisenden
von asiatischen und europäischen süd-ostlichen Völ-
kern, die entweder den Kindern noch jetzt die Köpfe
lang pressen, wie die Drusen, die mehresten Insu-
laner des Archipelagus etc., oder deren Köpfe jetzt
auch ohne gewaltsame Hülfe eine eigne sonderbare
Gestaltung annehmer. – Unser ehmaliger gel.
Mitbürger Hr. Dr. Philites aus Epirus hat ihn
benachrichtigt und an sich selbst gezeigt, daß die
Epiroten ein paar eigne Sonderbarkeiten an der
Form ihres Hinterkopfs haben; nemlich eine breite
flache Delle mitten auf dem Scheitel und ein paar
ungewöhnlich starke Erhabenheiten zu beiden Seiten
des Hinterkopfs. Hr. Ph. glaubt aber, es sey die
nun erbliche Folge einer ehmals Mode gewesenen
Künsteley. – Vollkommne Parallelfälle zu der
Hippocratischen Erzählung, von eben solchen vor-
maligen Künsteleyen, die nachher zur angebohrnen
Natur worden, an den Köpfen gewisser americani-
scher Wilden.

(Beyläufig von der Absicht und dem Nutzen
dieser Künsteleyen. Sie haben nicht immer blos
eingebildete Schönheit zum Zweck: sondern die nord-
americanischen Wilden z.B. thun es, nach der
Versicherung kundiger Reisebeschreiber, um durch
den so lange anhaltenden Druck auf den noch wei-
[Seite 55] chen Kopf die Augenhölen allgemach weiter ausein-
ander zu treiben, und sich dadurch einen weitern
Gesichtskreis zu verschaffen, der ihnen auf der
Jagd etc. sehr zu statten kommt. Dieß hat Hr. B.
in 9 porträtmäßigen Abbildungen solcher Indianer
bestätigt gefunden: auch durch den Schedel eines
ihrer Heerführer, dessen wir schon in unsern Blät-
tern Erwähnung gethan haben. – In manchen
Gegenden von America ist diese Sitte schon im 16ten
Jahrhundert von der römischen Geistlichkeit verbo-
then worden: z.B. in einem besondern Canon der
dritten Kirchenversammlung zu Lima A. 1585. –
Hingegen ist sie bis jetzt sogar von den freyen Ne-
gern, die unter den Caraiben wohnen, angenommen
worden, um dadurch ihre freygebohrnen Kinder von
den Kindern der Neger-Sclaven auszuzeichnen. –)

Endlich über den Grund der Schwierigkeit bey
der thierischen Bastardzeugung, als welche be-
kanntlich nur unter sehr nahverwandten Gattungen
statt findet. – Die Verfechter der präformirten
Keime nehmen an, bey der Befruchtung werde durch
den Reiz des männlichen Saamens das Herzchen
im Keim, das seit Erschaffung der Welt gleichsam
erstarrt gelegen, nun zum ersten Schlage angereizt.
– Nun aber steht bekanntlich der Grad der Reiz-
barkeit des Herzens mit dem Alter des Thiers in
umgekehrten Verhältniß. Das Herz im Keime
müßte folglich das reizbarste Wesen in der Natur
seyn. Warum sollte nun aber dieses Herzgen, das
in der Folge, d.h. bey immer mindrer Reizbar-
keit, selbst im Alter etc. für jeden chemischen oder
mechanischen Reiz empfindlich ist, in jener Zeit,
wenn es irgend da wäre, einzig und allein für den
Reiz des männlichen Saamens empfänglich seyn?
warum sollte es nach dem eignen Geständniß und
[Seite 56] den fruchtlosen Versuchen der Verfechter des Evo-
lutionssystems gegen alle andre weit schärfere Reize,
durch Galle, Harn, Essig, Brantewein etc. so wie
gegen den electrischen Funken etc. taub bleiben? und
sich nicht einmal durch jeden andern männlichen
Saamen von einer andern Thiergattung erwecken,
und dadurch den Anfang zu der vorgeblichen Ent-
wickelung machen lassen?

Leichter wird es zu begreifen, daß die rohen
ungeformten (keinen präformirten Keim enthal-
tende) Zeugungsstoffe, die sogenannten Saamen
beider Eltern, einander genau homogen seyn – eine
bestimmte Affinität zusammen haben müssen, wenn
nach ihrer Mischung und Zeitigung ein Bildungs-
trieb in ihnen rege werden soll.

Aus der Mischung zweyer verschiedner Zeu-
gungsstoffe erklärt sich dann aber auch die Mittel-
gestaltung der Bastarde, die sie von beiden Eltern
an sich haben, die hingegen der Lehre der präfor-
mirten Keime sehr ungünstig ist. Denn – da ihre
Anhänger dem väterlichen Saamen ausser seiner
erweckenden Kraft, dennoch auch so große bil-
dende
Kräfte zugestehen müssen, um die ange-
stammte Gestaltung des weiblichen Keims zur Ba-
stardgestaltung umzuschaffen, so ist nicht abzusehn,
wozu denn also überhaupt der Keim präformirt ge-
wesen zu seyn brauchte, und warum nicht die ganze
Bildung dem durch die Zeitigung im gemischten Zeu-
gungsstoffe erregten Bildungstriebe überlassen seyn
soll. – Mit einem Worte, man kann bey den
vermeynten Keimen durchaus doch den Bildungs-
trieb nicht entbehren: Aber wohl ist dieser allein
ohne alle Beyhülfe der Einschachtelungshypothese
hinlänglich befriedigend.




Blumenbach, Johann Friedrich. Date:
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