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Göttingische
Anzeigen
von
gelehrten Sachen
unter der Aufsicht
der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften.

Der zweyte Band.
auf das Jahr 1781.


Göttingen,
gedruckt bey Johann Christian Dieterich.

Haag und Paris.

[Seite 40]

Lettres de J.A. de Luc. Wir haben die
Erde beym Schluß unserer vorigen Anzeige (Zug.
1780. 49. St.) in einem sehr traurigen Zustand
verlassen. Das Paradies, (das unsere Exegeten
bisher immer auf der Landkarte von Asien such-
ten,) die Asche der Väter vor der Sündfluth u.s.w.
alles das in der nunmehrigen Tiefe des Meers,
dessen vormaliges Bette nun vom Wasser entblösst,
todt und öde, der Luft ausgesezt, nach und nach
zur neuen Erde umgeschaffen, neubelebt, bewach-
sen und bewohnt werden soll. Auch diesen zwey-
ten Theil seiner cosmologischen Erdgeschichte (sei-
ne Histoire moderne) hat Hr. de L. aufs voll-
ständigste ausgeführt, und auch hierin die Versuche
[Seite 41] seiner Vorgänger in Erklärung der Sündfluth und
Erdcatastrophe bey weitem übertroffen, die sich
begnügten, die Vorwelt in ihren Systemen durch
Feuer oder Wasser vernichtet zu haben, ohne sich
weiter darauf einzulassen, ob und wie nun ihre
glücklich catastrophirte Erde auch wieder bebaut
und bevölkert werden könnte. Beydes, sowohl
die Wege wodurch, der Allgemeinheit der Erd-
revolution ohngeachtet, dennoch sattsame Gattun-
gen von Thieren und Gewächsen haben erhalten
und auf die neue Continens fortgepflanzt werden
können, als auch den Anfang und Fortgang der
Vegetation auf dieser öden Erde, hat der Verf-
aufs Umständlichste und Faßlichste vorgetragen.
Bey weitem nicht alle Thiere haben durch Noah
gerettet zu werden gebraucht. Alles, was auf
den vormaligen Inseln, den nachherigen Gipfeln
der höchsten Gebürge, lebte, entgieng dem Welt-
gerichte. Vielleicht daß ausser Noahs Familie auch
selbst noch manche andere Menschen (nemlich solche
vormalige Insulaner) gerettet worden sind. So
vielleicht die guten alten Incas von Peru auf den
Cordilleras, da ihre Spitzen noch Inseln waren etc.
(versteht sich blos vielleicht; denn man muß die
Strenge bewundern, mit welcher Hr. de L. in seinem
ganzen Werke Erfahrung und Vermuthung, Wahr-
scheinliches und Mögliches aufs sorgfältigste un-
terscheidet.) Vielerley Gesäme, Gesträuche, und
auf diesen mancherley Insecten u.a. kleine Thiere,
wurden bey der Ueberschwemmung des vormaligen
festen Landes vom Wasser aufgehoben, und aufs
neue Erdreich hingetrieben u.s.w. Doch mögen
auch allerdings durch die Revolution ganze Gat-
tungen von ehemaligen organisirten Körpern, die
sich jezt blos unter den Versteinerungen finden,
untergegangen seyn. Der Verf. vergleicht bey die-
[Seite 42] sem Anlaß die jetzigen Conchylien mit den verstein-
ten, und findet freylich, daß zu einer sehr grossen
Anzahl der leztern noch keine wahren Originale
entdeckt sind. Er beschreibt verschiedene der auf-
fallendsten von ihnen, z.B. die beiden so äusserst
sonderbaren Bivalven, die sein Hr. Bruder auf
dem Saleveberg bey Genf entdeckt, und wovon
Hr. Saussure nunmehr in seinen Alpenreisen Abbil-
dungen geliefert hat, und die weder mit einer an-
dern Petrefactenart, noch weniger mit irgend einer
natürlichen Muschelgattung übereinkommen. So
auch ein drittes solches Incognitum von Barbezieux
in Saintonge u.s.w. (Alle diese neuentdeckten
merkwürdigen Petrefactenarten sind von den Herren
de L. ans Göttingische Museum geschenkt worden.)

Allein auch für die erhaltenen und geretteten
Geschöpfe konnten doch jene vormaligen Inseln
nicht lange mehr bewohnbar bleiben. Sie waren
nun Bergspitzen worden, waren durch die verän-
derte Gestalt der Erde nun in eine ungleich höhere,
folglich kältere, Atmosphäre gekommen, sie mußten
nun bald mit Schnee, und allgemach mit ewigem
Eis bekleidet, folglich von den Thieren, denen sie
bisher noch Nahrung und Aufenthalt geben konn-
ten, die sich aber nun immer mehr herunter nach
den wärmern Zonen in die Thäler ziehen mußten,
verlassen werden. Auch ihre bisherigen Flüsse
mußten, so wie die Ströme der vorigen Erde,
einen andern Lauf nehmen, sich neue Bahn bre-
chen und auch hiedurch fernerweitige grosse Verän-
derungen veranlassen. Sie wurden durch die Dün-
ste und die daher entstehenden langanhaltenden
Regengüsse, die nothwendig auf die Revolution
folgen mußten, ungemein verstärkt, und strömten
theils ins Meer und rissen während ihres Laufs,
[Seite 43] da sie überall Widerstand fanden, sich Flußbetten
bahnen mußten, eine Menge organisirter Körper
mit. sich fort. Theils aber ergossen sie sich in
Seen des neuen Landes, die aber, wie sich von
selbst versteht, damals durchgehends von Seewas-
ser gefüllt waren: und hieraus erklärt Hr. de L.
nicht nur den, vielen Zweiflern räthselhaft geschie-
nenen Ursprung der Süßwasserfische, sondern auch
die Entstehung der süssen und der salzichten Seen,
und des Steinsalzes. Erhielten nemlich jene Seen
stärkern Zufluß von süssem Wasser, als sie wieder
verdunsten konnten, so wurden sie nach und nach
selbst versüßt. Stand hingegen Zufluß und Eva-
poration in gleichem Verhältniß, so blieben sie
salzicht, wie sie waren. Erhielten andere endlich
gar weniger Zufluß, so mußten sie endlich aus-
dunsten und allgemach zu Steinsalz verhärten.

Die wichtigste von allen diesen Veränderungen
aber und zugleich die allerallgemeinste und perpe-
tuirlichste ist das Bewachsen des neuen Erdbodens,
die Vegetation, deren Anfang und Fortgang,
Ursachen, die sie verhindern oder beschleunigen
und befördern können, der Verf. aufs sorgfältigste
untersucht, und dabey eben so scharfsinnige und
feine, als wichtige und wahre, Bemerkungen zur
Physiologie der Gewächse, einem so anmuthigen
und noch so wenig bebauten Felde der menschlichen
Kenntnisse, liefert.

Die erste Grundlage zu aller Besaamung der
Erde legen die Moose, die bekanntlich selbst an
den kahlsten Felsen bekleiden, und in kurzer Zeit,
so wie sie vermodern und andere an ihrer Stelle
aufschiessen, ein dauerhaftes Bette für grössere
Gewächse bereiten. In Sandland schlägt nach-
[Seite 44] her nichts so bald und so leicht an, als Heide-
kraut, das selbst an Stellen, wo man es vorher
mit Fleiß ausgerottet, doch in wenigen Jahren
wieder anzufliegen pflegt.

In steinichtem, zumal kalkichtem Boden hin-
gegen geht die Vegetation natürlicher Weise nicht
ganz so leicht, aber dagegen, wenn sie nur ein-
mal Wurzel gefaßt hat, desto dauerhafter und
mehr ins Grosse von statten. Die Saamen der
Gewächse sind theils schon ihrer Bildung nach
bestimmt, ein Spiel der Winde zu seyn, von ihnen
in der Luft umhergeführt, zerstreut und ausgesäet
zu werden. Ferner tragen so Millionen Thiere,
zumal Vögel und Insecten, das ihre zur Fort-
pflanzung der Gewächse bey. Die Standen und
Bäume erhalten ferner durch ihren Bau immer
mehr Dauer, da ihre Wurzeln in den Steinritzen
weit umher ranken und das Dickicht ihrer Zweige
dem Verwehen des abgefallenen Laubes vorbeugt,
und dadurch den Fortgang der Vegetation sichert:
Dieses ganze wichtige Geschäfte verfolgt Hr. de L.
durch alle nur irgend beträchtliche Umstände, zeigt
z.B. den sehr grossen Antheil, den das allmäh-
lige Einstürzen der schroffen Felsenwände in ge-
bürgichten Gegenden zum Fortgang der Besaamung
beytrage. Die abgerissenen heruntergetrümmer-
ten Stücken häufen sich am Fuß des Felsen an,
machen gleichsam eine Böschung oder Abdachung
(Talus, wie mans in der Fortification nennt,)
die dann in kurzem von Gewächsen eingenommen
und belebt wird.

Dieses, was wir in der gegenwärtigen und
neulichen Anzeige gesagt haben, ist die allgemei-
ne Uebersicht
des de Lucschen Erdsystems. Ihm
[Seite 45] in die weitere Ausführung zu folgen, ist jenseits
unserer Schranken. Zu dieser Ausführung gehört
vorzüglich ein beträchtlicher Theil des ganzen
Werks, der zur Befestigung des Gebäudes dient,
polemischen Inhalts ist, und die Prüfung und
Beurtheilung der bisherigen Lehrgebäude über die
Entstehung und Gestalt unserer jetzigen Erde, enthält.
Durchgehends zeigt sich dabey die musterhafte
Billigkeit und Bescheidenheit des liebenswürdigen
Verf., der niemanden verachtet und sich daher
auch zur Prüfung einiger Systeme herabgelassen
hat, die doch, wie das von Telliamed, zum Theil
so äusserst frostige und schaale Abgeschmacktheiten
behaupten, daß es dem Rec. schon manchmal Leid
gethan hat, daß sich das eben genannte Buch
vom verdienten Verf. der Description de l’Egypte
herschreibt.

Einen andern ungemein anmuthigen Theil des
Werks machen die gelegentlichen Abhandlungen
aus, wozu Hr. de L. durch den Verfolg seines
Systems veranlasset wird. So z.B. eine über-
aus menschenfreundliche Vertheidigung der Ge-
meinheiten, wozu man so viele wüste unbebauete
Landstriche verwenden solle. Wie ihre Verfassung
gleich anfangs durch weise Gesetze gegründet und
dadurch künftigen etwanigen Nachtheilen vorge-
beugt werden müsse, zeigt der Verf. am Muster
der Hannöverschen Regierung.

Die merkwürdige Uebereinstimmung der Mo-
saischen Nachrichten von der Sündfluth mit den
cosmologischen Datis von der jetzigen Gestalt un-
serer Erde u.s.w. leitet den Verf. auf eine über-
aus wichtige Vergleichung der natürlichen und
[Seite 46] geoffenbarten Religion; wie schwankend und viel-
seitig jene im Bestimmung der Begriffe von Tu-
gend, und folglich von Glück (z.B. von dem
des ehelichen Lebens) sey u.s.w.; wie leicht sich
also die Nothwendigkeit einer Offenbarung er-
gebe, und wie anderseits die Aechtheit der uns
verliehenen, bey jeder strengsten Prüfung immer
glänzender erhelle.

So ein anderer Discurs über die Endursachen
des Schöpfers, über seine weise Absichten zum
Glück seiner Geschöpfe; wie da besonders Natur-
wissenschaft zur grossen Quelle des Glücks für die
Schöpfung werde, da sie zur Wahrheit, und diese
zu Gott führt.

Eine andere sehr umständliche Untersuchung
über die natürlichen Kräfte des Menschen, beson-
ders seines Geistes, Prüfung des Vibrations- und
Associationsmechanismus, den Hartley ausdachte,
und sein neuerer berühmter Commentator so vor-
treflich findet u.s.w.

Blos zur Nachricht für solche Leser und Lese-
rinnen, die etwa Hrn. de L. Vortrag noch nicht
kennen, und für die solche ernste Materien, als
er zum Theil in dieser theoretischen Hälfte seiner
Briefe adhandelt, an sich wenig einladenden Reiz
haben dürften, erinnern wir nur, daß, so wie
weiland die Paracelsisten und Rosenkreuzer, und
nachher einige deshalb merkwürdige Dichter die
sonderbare Gabe hatten, die trivialsten, simpelsten
Gedanken in den unverständlichsten Wortbombast
zu verwirren; so Hr. de L. hingegen das gegen-
seitige Geheimnis besizt, auch die abstractsten oder
[Seite 47] trockensten Materien durch die Leichtigkeit eines
fliessenden und mit Attischem Salz gewürzten Vor-
trags jedem nur irgend etwas hellen Kopfe nicht
blos verständlich, sondern zugleich überaus unter-
haltend und einnehmend zu machen.



Blumenbach, Johann Friedrich. Date:
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