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Göttingische
Anzeigen
von
gelehrten Sachen
unter der Aufsicht
der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften.

Der erste Band.
auf das Jahr 1781.


Göttingen,
gedruckt bey Johann Christian Dieterich.

Frankfurt an der Oder.

[Seite 503]

In einem öffentlichen Anschlag zu einer Uni-
versitätsfeyerlichkeit handelt der dasige Prof. der
Beredsamkeit, Hr. Schneider, de achlide Plinii
et
ϰολῳ Strabonis, und hält darinnen beide für
einerley Thier, und zwar für die Sibirische wilde
Steppenziege, Saïga (Capra tattarica Linn. An-
tilope scythica Erxleb
.): ein Paar Vermuthun-
gen, denen schwerlich ein Naturforscher, der die-
ses Thier näher kennt, beypflichten wird. Pli-
nius sagt von der Achlis (VIII. B. 16. Abschn.)
natam in Scadinavia insula, wo doch kein Saïga
wol je gesehen worden. haud dissimilem alci, aber
die gänzliche Unähnlichkeit zwischen dem Elendthier
und dem Saïga ist auffallend. sed nullo suffra-
ginum flexu etc
. die alte fabelhafte Sage, die
[Seite 504] man wol dem starkbeinichten Elend, so wie dem
Elephanten etc., aber wol nie dem flinken Saïga,
angedichtet hat. Labrum ei superius praegrande
hat das Elend mit dem Saïga und vielen andern
Thieren gemein. ob id retrogreditur in pascendo
etc
. diese seltsame Legende hätten wir hier nicht,
auf die Zeugnisse der an dergleichen Abentheuern
so reichen Reisebeschreiber, des Kantemirs etc. für
richtig angenommen, erwartet. Ohne ihnen die
umständlichen Nachrichten der gültigern Richter,
des verstorbenen jüngern Gmelin, des Hrn. Pallas
u.s.w. die das Thier oft weiden gesehen, entge-
gen zu setzen, so ist schon an sich die Unmöglich-
keit einleuchtend, wie ein Thier, das keine Vor-
derzähne im Oberkiefer hat, sondern jeden Bissen
mit seinen untern flachliegenden Schaufelzähnen
abstossen muß, sollte rücklings weiden können!
Hingegen ist eben deshalb die lange Oberlippe
bey den lebenden genannten Thieren so sehr be-
weglich, damit sie aufgezogen werden und dem
auf der Weide vorwärts arbeitenden Gebiß nicht
hinderlich seyn kan u.s.w. Die andere Meinung,
daß Strabons ϰολος eben die Achlis des Plinius sey,
dünkt uns eben so wenig gegründet, da auch nicht
ein einziger Umstand in jener Alten Nachrichten von
ihren beiden Thieren übereinstimmt. Daß aber ϰολος
wol nach Conr. Gesners Vermuthung die Saïgaziege
seyn könne, ist allerdings glaublich. Vaterland,
Statur und Farbe kommen damit überein. Allein
desto sicherer ist auch des Plinius Achlis ein ganz ver-
schiedenes Geschöpf, das die ältern Ausleger, Cluver,
Cellarius u.s.w. um so wahrscheinlicher aufs Renn-
thier deuten konnten, da dieses dem Elendthier sehr
ähnlich und doch bey seiner eingeschränkten nordli-
chern Heimat den Römern minder bekannt seyn
mußte, wie schon aus ihren ungewissen schwan-
kenden Sagen vom Tarandus erhellt.




Blumenbach, Johann Friedrich. Date:
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