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Anatomie
des
menschlichen Körpers

aus dem Englischen übersetzt
von
August Ferdinand Wolff
d.A.W.K.
nebst einer Vorrede
von
J. Fr. Blumenbach
Königl. Grosbrit. Hofrath und Professor ord.

Mit vierzig Kupfertafeln
nach Vandergucht von Riepenhausen.

Göttingen,
bey Johann Christian Dieterich

1790
.

Vorrede.

[[V]]

Der Werth eines wissenschaftlichen Handbuchs
oder so genannten Compendii läßt sich aus
sehr verschiedner Rücksicht beurtheilen und bestim-
men. Es kann wichtige eigene Gedanken und
Entdeckungen des Verfassers enthalten, und dadurch
selbst für die Geschichte der Wissenschaft und die
Annalen der Litteratur merkwürdig werden. Es
kann aber auch ohne dem schon, durch den Fleiß
des Verf. der dem Compendium eine zweckmäßige
Vollständigkeit zu geben weis; oder durch seine
Urtheilskraft, da er aus der ganzen wissenschaftlichen
Masse seines Fachs Kern und Mark auszuheben,
und bündig zusammen zu fassen versteht; oder durch
die Gabe der Deutlichkeit und des guten Geschmacks
in der Einkleidung und Darstellung; und durch
mehr dergleichen Vorzüge nützlich und fruchtbar
werden. In manchen Fächern können auch gute
Abbildungen die Brauchbarkeit eines solchen Hand-
buchs vergrößern, u.s.w.

Je mehrere dieser Vorzüge in einem Compen-
dium vereint sind, desto größer und dauerhafter ist
folglich sein Werth: wie man dies; z.B. sehr auffal-
lend an einigen der so zahlreichen Handbücher sieht die
[Seite VI] zumahl seit 200 Jahren über die Zergliederung des
menschlichen Körpers erschienen sind.

Das allererste anatomische Compendium in der
Welt, das nemlich wirklich nach menschlichen Lei-
chen abgefaßt worden, ist die berühmte kleine Ana-
tomia partium corporis humani
die Mondini
in Bononien ohngefähr im zweyten Jahrzehend des
XIVten Sec. geschrieben, und die fast 200 Jahre
lang mit einer so übertriebnen Verehrung als ein
ganz infallibler Canon angesehen worden, daß die
Aerzte wenn sie in einer Leiche etwas anders fan-
den als es im Mondini beschrieben stand, es ge-
radezu für eine Monstrosität erklärten. Das da-
mahls so vergötterte und für jene Zeiten wirklich
Epoche machende Werkchen hat für die unsre nun
keinen andern Werth als den einer litterarischen
Seltenheit; denn die sämmtlichen gedruckten Ausga-
ben davon haben sich nun so rar gemacht, daß
z.B. der sel. Camper nicht eher eines hatte kön-
nen zu sehen kriegen, als da er vor 10 Jahren
hier bey uns war, da er eins von den meinen
zur Durchsicht liehe. Und von allen den alten
Handschriften desselben, deren doch vor 1482 (da
die erste gedruckte Ausgabe erschien) eine große
Menge im Umlauf gewesen seyn müssen, existiren
meines Wissens gegenwärtig nicht mehr als zweye
noch: eins nemlich in der Königl. Bibliothek zu
Paris, und das andre, ein ausnehmend saubrer
alter Codex womit neulich Hr. Hofr. Bernhold zu
Uffenheim meine Sammlung zu bereichern die Güte
gehabt hat.

[Seite VII]

Der ehrliche Mundinus, dem übrigens immer
das Verdienst bleibt eine nachher so gangbare
große Bahn zuerst betreten zu haben, ward schon
in der ersten Hälfte des XVIten Jahrhunderts durch
eine Menge andrer anatomischer Handbücher ver-
drängt, und nach und nach fast gar vergessen. Vie-
len nachherigen, die etwa einen sehr einseitigen und
bloß temporären Werth hatten, ist es nicht besser
gegangen. So z.B. dem Leonh. Fuchs u.a.
dergl. Epitomatoren die bloß den Vesalius in ein
Compendium (im Wortverstande) brachten.

Um die Mitte des vorigen Jahrhunderts ha-
ben ein Paar dergleichen Handbücher eine ganz auf-
fallend große und verdiente Celebrität erlangt.
Das von Vesling nemlich und von Th. Bar-
tholin.
Von beiden hat Gerh. Blasius Prof.
zu Amsterdam ein Paar Ausgaben besorgt, die nichts
weniger als selten, und doch selbst für unsre Zeiten
noch so nutzbar und reichhaltig sind, daß ich mir
diese Gelegenheit nicht kann entgehen lassen, sie
manchem jüngern Leser, dem diese Vorrede etwa in
die Hände fällt, recht sehr zu empfehlen. Ich
meine Veslingii syntagma,commentario atque
appendice auctum a Ger. Blasio, Amst
. 1666. 4.
und von Bartholini anatome renovata die Leidner
Ausgabe v.J. 1673. 8. die beide noch gar
häufig in Auctionen vorkommen, und eine rechte Fülle
von wichtigen und doch nicht gemeinen Bemerkun-
gen aus den nützlichsten und doch jetzt wenig gele-
senen anatomischen Schriften jener Zeit enthalten.

[Seite VIII]

Die anatomischen Handbücher die in der ersten
Hälfte des jetzigen Jahrhunderts erschienen sind,
haben einen sehr ungleichen verschiednen Werth der
nach den mancherley Gesichtspunkten die oben an-
gegeben worden, beurtheilt werden muß. So
empfahl sich z.B. Winslows Werk durch die
Menge eigner Bemerkungen und Berichtigungen so
wie durch die ausnehmende Vollständigkeit (wo-
durch es freylich über das Maß eines Compen-
dium im gewöhnlichen Sinn angewachsen); das
über 20mal aufgelegte und fast in alle Europäi-
schen Sprachen übersetzte Heistersche Buch hinge-
gen durch seine bündige Kürze und die dem ver-
dienten Mann eigne ausnehmende Faßlichkeit, wo-
zu auch vielleicht die damahls beliebte tabellarische
Form beytrug; andre durch andre Vorzüge.

Schwerlich wird doch aber eins genannt werden
können, das so viele derselben in sich vereinte, und
doch außer dem Lande worin der Verfasser schrieb
noch so wenig allgemein benutzt worden, als das ge-
genwärtige, wovon ich nicht weniger als XII eng-
lische Ausgaben, hingegen bis auf diese deutsche
keine einzige Uebersetzung kenne. Vermuthlich
schreckte die Zahl und Sauberkeit der Kupfertafeln
die doch so vieles zur Brauchbarkeit des vortreffli-
chen Werks beytragen, auswärtige Buchhändler
ab: denn sonst verdienten wohl wenige Bücher dieser
Art so allgemein gelesen und benutzt zu werden als
dieses, zu dessen Empfehlung ich mich nicht lange
auf Autoritäten unser größten Zergliederer des Hrn.
[Seite IX] von Haller, des sel. Camper u.a., sondern gera-
dezu auf das Gefühl eines jeden nur irgend der
Beurtheilung fähigen Lesers berufe, der schon
beym bloßen Durchblättern desselben aus der ganzen
Art wie der Mann seinen Stoff behandelt, aus
den durchgehends eingeschalteten und angehängten
practischen wichtigen Anwendungen und Bemerkun-
gen und dergl. m. den großen Werth des classi-
schen Werks erkennen, und dem Uebersetzer dessel-
ben, einem hoffnungsvollen angehenden jungen Arzte,
für die auf die allgemeinere Benutzung abzwecken-
de Uebersetzung desselben danken wird.

Göttingen den 7ten Febr. 1790.
J.F. Blumenbach


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Blumenbach, Johann Friedrich. Date:
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